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ie schwebten über Mexiko.

 

Sie schwebten über einer Insel in einem See in

Mexiko.
Weit unten hörten sie Hundegebell in der Nacht.
Sie sahen ein paar Boote, die sich auf dem mondbeschienenen See wie Insekten bewegten. Sie hörten
eine Gitarre und einen Mann, der mit einer hohen,
traurigen Stimme sang.
Weit, weit entfernt, jenseits der dunklen Grenzen
des Landes, in den Vereinigten Staaten, rannten Kinderbanden und Hundemeuten lachend und bellend
und polternd von Tür zu Tür, in den Händen Beutel
mit süßen Schätzen, ausgelassen schreiend in dieser
Halloweennacht.
»Aber hier …« flüsterte Tom.
»Hier was?« fragte Downground, der neben ihm
schwebte.
»Naja, hier …«
»Und in ganz Südamerika …«
»Ja, nach Süden hin. Hier und nach Süden hin. Alle Friedhöfe. Alle Friedhöfe sind …«
… voller Kerzen, dachte Tom. Tausend Kerzen
auf diesem Friedhof, hundert Kerzen auf jenem. Und
hundert, fünftausend Kilometer weiter, bis hinunter zur argentinischen Spitze des Kontinentes brannten
zehntausend kleine, flackernde Lichter.
»Feiern sie so …?«
»El Dia de los Muertos. Wie gut bis du in Spanisch, Tom?«
»Der Tag der Toten?«
»Caramba, si! Löse dich auf, Drachen!«
Der Drachen stieß zu Boden und zerstob ein letztes Mal zu Fetzen.
Die Jungen purzelten auf den steinigen Strand des
stillen Sees.
Nebel hing über dem Wasser.
Auf der Insel konnten sie einen dunklen Friedhof
sehen. Dort brannten noch keine Kerzen.
Ein Einbaum schob sich lautlos und ohne Paddel
aus dem Nebel – es war, als würde er von einer Strö
mung getragen.
Am hinteren Ende des Bootes stand reglos eine
große Gestalt mit einer grauen, faltenreichen Kutte. Das Boot stieß leise ans Ufer.
Die Jungen schnappten nach Luft. Denn soweit sie
es erkennen konnten, war unter der Kapuze der verhüllten Gestalt nichts als schwarze Finsternis. »Mr---Mr. Downground?«
Sie wußten, daß er es sein mußte.
Doch er sagte nichts. Unter der Kutte glomm nur
ein Lächeln, so unendlich schwach wie ein winziges
Glühwürmchen. Eine knochige Hand winkte ihnen. Die Jungen kletterten in das Boot.
»Schhh!« flüsterte die Dunkelheit unter der Kapuze. Die Gestalt machte abermals eine Geste, und geschoben vom Wind glitten sie über das dunkle Wasser, unter einem Nachthimmel, der von dem Feuer
von Milliarden nie zuvor gesehener Sterne erfüllt war. Auf der dunklen Insel erklangen die Saiten einer
Gitarre.
Eine Kerze leuchtete auf dem Friedhof.
Irgendwo spielte irgend jemand einen melodischen
Ton auf einer Flöte.
Zwischen den Grabsteinen erschien eine zweite
Kerze. Jemand sang ein Wort aus einem Lied. Eine dritte Kerze wurde von einem brennenden
Streichholz zum Leben erweckt.
Und je schneller das Boot dahinfuhr, desto mehr
Gitarrenklänge waren zu hören und desto mehr Kerzen wurden an den Gräbern auf den steinigen Hügeln
entzündet. Ein Dutzend, hundert, tausend Kerzen
flammten auf, bis es war, als wäre der Andromedanebel vom Himmel gefallen und hätte sich hier, mitten im fast mitternächtlichen Mexiko, zur Ruhe gelegt.
Das Boot stieß ans Ufer. Überrascht fielen die
Jungen hinaus. Sie sahen sich nach allen Seiten um,
doch Downground war verschwunden. Nur seine
Kutte lag leer im Boot.
Eine Gitarre rief. Eine Stimme sang und lockte. Eine Straße, die wie ein Fluß aus weißen Steinen
und Felsen aussah, führte hügelauf durch die Stadt,
die wie ein Friedhof war, zu dem Friedhof, der wie
eine Stadt war.
Es waren keine Menschen in der Stadt.
Die Jungen kamen an die niedrige Friedhofsmauer
und dann an das schmiedeeiserne Tor. Sie umklammerten die Eisenstäbe und sahen hinein.
»Mensch«, sagte Tom, »so was hab ich ja noch nie
gesehen!«
Denn jetzt wußten sie, warum keine Menschen in
der Stadt waren.
Sie waren alle auf dem Friedhof.
An jedem Grab kniete eine Frau und legte Gardenien oder Azaleen oder Ringelblumen auf den Grabstein.
An jedem Grab kniete eine Tochter und entzündete eine Kerze oder zündete eine vom Wind ausgeblasene Kerze wieder an.
An jedem Grab saß ein stiller Junge mit blitzenden
braunen Augen, der in einer Hand einen auf ein Brett
geklebten Beerdigungszug aus Pappmache und in der
anderen einen Pappmache-Totenkopf hielt, in dem
eine paar Reiskörner oder Nüsse klapperten. »Seht doch«, flüsterte Tom.
Es gab Hunderte von Gräbern. Und an ihnen saßen
Hunderte von Frauen, Töchtern, Söhnen. Und es
brannten Hunderte von Kerzen, Tausende. Der ganze
Friedhof war ein einziges Meer von Kerzen, als wäre
ein ganzes Glühwürmchenvolk hierher zu einer großen Glühwürmchenversammlung geflogen, als hätte
es sich niedergelassen, um die Grabsteine und die
braunen Gesichter und dunklen Augen und schwarzen Haare zu illuminieren.
»Junge, Junge«, sagte Tom halb zu sich selbst.
»Zu Hause gehen wir nie auf den Friedhof, höchstens
vielleicht einmal im Jahr, am Volkstrauertag, aber
dann auch immer mittags, wenn die Sonne scheint.
Das macht überhaupt keinen Spaß. Aber das hier –
das sieht nach Spaß aus!«
»Ja«, flüsterten alle.
»Das mexikanische Halloween ist viel besser als
unseres!«
Auf jedem Grab standen jetzt Teller mit Plätzchen
in Form von Priestern oder Skeletten oder Gespenstern und warteten darauf, gegessen zu werden. Von
Lebenden? Oder von Geistern, die vielleicht gegen
Morgengrauen kommen würden, einsam und hungrig? Niemand wußte es. Niemand sprach darüber. Und jeder Junge, der neben seiner Mutter und
Schwester auf dem Friedhof saß, stellte seinen Miniatur-Beerdigungszug auf das Grab. Sie konnten die
winzige Gestalt aus Zuckerwerk in dem kleinen hölzernen Sarg vor einem kleinen Altar mit winzigen
Kerzen sehen. Und um den Sarg standen kleine Meß
diener, deren Köpfe aus Erdnüssen mit aufgemalten
Augen bestanden. Und vor dem Altar stand ein Priester, dessen Kopf eine Haselnuß und dessen Bauch
eine Walnuß war. Und auf dem Altar stand ein Foto
des Menschen im Sarg. Es hatte ihn einmal in Fleisch
und Blut gegeben, und nun gedachte man seiner. »Das gefällt mir immer besser«, flüsterte Ralph. »Cuevos!« sang leise eine Stimme weiter oben am
Hügel.
Vom Friedhof hörte man ein Echo des Singsangs. An der Friedhofsmauer saßen die Männer der
Stadt. Manche hielten Gitarren, andere Flaschen in
den Händen.
»Cuevos de los Muertos …«, sang die leise Stimme.
»Cuevos de los Muertos …«, wiederholten die
Männer im Schatten neben dem Tor.
»Schädel«, übersetzte Tom. »Die Schädel der Toten.«
»Schädel, süße Zuckerschädel, süße Schädel aus
Zuckerwerk, Schädel der Toten«, sang die Stimme
und kam näher.
Und den Hügel hinab kam mit leisen Schattenschritten ein buckliger Schädelhändler.
»Nein, er hat gar keinen Buckel …« sagte Tom
halblaut.
»Er trägt einen ganzen Sack voller Schädel«, rief
Ralph.
»Süße Schädel, süße weiße Zuckerschädel«, sang
der Händler, dessen Gesicht im Schatten eines riesigen Sombreros lag. Doch es war Downgrounds
Stimme, die so melodisch sang.
Von einer langen Bambusstange über seiner
Schulter baumelten an schwarzen Fäden Dutzende
von Zuckerschädeln in Lebensgröße, und jeder trug
eine Aufschrift.
»Namen! Namen!« sang der alte Händler. »Sagt
mir eure Namen – ich habe eure Schädel!«
»Tom«, sagte Tom.
Der alte Mann zog aus dem Gewirr der Schädel
einen hervor, auf dem in großen Buchstaben TOM
stand.
Tom nahm ihn und hielt seinen Namen, seinen eigenen eßbaren, süßen Schädel in Händen.
»Ralph.«
Und sogleich bekam er einen Schädel mit der Aufschrift RALPH zugeworfen. Lachend fing er ihn auf. Schnell und spielerisch zog die knochige Hand einen weißen Schädel nach dem anderen hervor und
warf sie durch die kühle Luft: HENRY-HANK! FRED!

GEORGE! HACKLES! J.J.!

WALLY!
Die Jungen quietschten und tanzten unter diesem Bombardement. Sie wurden mit ihren eigenen Schädeln beworfen, auf deren weißen Stirnen in Zuckerguß ihr Name stand. Sie fingen sie auf und hätten sie beinah fallen lassen.
Mit aufgesperrten Mündern standen sie da und starrten auf das zuckrige Totennaschwerk, das sie in den klebrigen Händen hielten.
Und auf dem Friedhof sangen sehr hohe männliche Sopranstimmen:
Roberto … Maria … Conchita … Tomas …
Calavera, Calavera, süße Knochen zum Naschen!
Mit Namen darauf - was für ein Fest!
Herbei, herbei, voll sind meine Taschen
Mit schneeweißen Schädeln – kauft und eßt!
Eßt eure Namen, und eßt den Rest!

Die Jungen hoben die Hände mit den süßen Schädeln.

Beiß das T ab und das O und das M – Tom! Kau das H, schluck das A, knabber am N, verschluck dich am K – Hank!

Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. Aber … war es vielleicht Gift, das sie in Händen hielten?

Ihr kennt sie nicht, diese Freude, dies Glück, Wenn jeder die Brosamen der Finsternis speist? Es ist eine Köstlichkeit – nehmt doch ein Stück Von dem Kopf, der euren Namen weist!

Die Jungen führten die Namen aus Zuckerguß an ihre Lippen und wollten gerade abbeißen, als …

 

»Ole!«

eine Bande mexikanischer Jungen angerannt kam, ihre Namen schrie und ihnen die Schädel aus den Händen schlug.

»Tomas!«

Und Tom sah Tomas mit seinem Schädel davonlaufen.
»Hey«, sagte Tom, »der sah irgendwie aus wie ich!«
»Tatsächlich?« sagte der Schädelhändler.
»Enrique!« rief ein kleiner Indiojunge und schnappte sich Henry-Hanks Schädel.
Enrique rannte den Hügel hinab.
»Er sah aus wie ich!« sagte Henry-Hank.
»Tatsächlich«, sagte Downground. »Schnell, Jungs, ihnen nach! Findet raus, was sie vorhaben! Laßt sie nicht mit euren Schädeln entkommen! Holt sie euch zurück!«
Die Jungen zuckten zusammen.
Denn im selben Augenblick gab es unten, in der Stadt, eine Explosion. Dann noch eine und noch eine. Es war ein Feuerwerk.
Die Jungen sahen sich ein letztes Mal nach den Blumen, den Gräbern, den Plätzchen und Speisen, den Schädeln auf den Gräbern, den MiniaturBeerdigungen, Särgen und Kerzen, den zusammengesunkenen Frauen und einsamen Jungen, Mädchen und Männern um und wirbelten und sausten den Hügel hinunter in Richtung Feuerwerk.
Auf der Plaza blieben Tom und die anderen kostümierten Jungen keuchend stehen. Sie tanzten herum, als ringsum tausend kleine Knallfrösche explodierten. Die Lichter gingen an. Plötzlich waren die Geschäfte geöffnet.
Und Tomas und Jose Juan und Enrique zündeten Knallfrösche an und warfen sie mit Geschrei.
»Hey, Tom – der ist von mir: Tomas!«
Tom sah seine eigenen Augen im Gesicht des ausgelassenen Jungen blitzen.
»Henry, der hier ist von Enrique!« Peng!
»Und der ist für dich, J. J. – von Jose Juan!«
»Ach, das ist das beste Halloween von allen!« sagte Tom.
Und so war es.
Denn während der ganzen wilden Reise hatte es nicht so viel zu sehen, zu riechen, zu berühren gegeben wie hier.
In jeder Gasse, in jeder Tür und jedem Fenster lagen Haufen von Zuckerschädeln mit wunderschönen Namen.
Aus jeder Gasse kam das Tapp-Tapp der Sargtischler, das sich anhörte wie das Pochen des Totenuhrkäfers. Sie hämmerten, sie nagelten Sargdeckel fest, und es war, als schlügen sie in der Nacht auf hölzerne Trommeln.
An jeder Ecke lagen Zeitungsstapel mit dem Bild des Bürgermeisters, dessen Körper ein Skelett war, oder des Präsidenten, der nur noch aus Knochen bestand, oder einer hinreißenden Frau, die sich als Xylophon verkleidet hatte: Der Tod spielte auf ihren Rippen eine Melodie.
»Calavera, Calavera, Calavera …« Das Lied trieb den Hügel hinunter.

Seht die Politiker, von der Zeit überrannt. Ruhet in Frieden – euer Ruhm war bloß Tand! Seht die dürren Gerippe, wie hoch sie aufragen, Stehn auf den Schultern von anderen und jammern und klagen,
Sie predigen, ringen, spielen Fußball zuweilen, Kleine Springer und Sprinter, die vergebens eilen. Wer hätte gedacht, daß nach des Lebens Pein Der Tod könnte etwas so Kleines sein?

Und das Lied hatte recht. Wohin die Jungen auch sahen – überall waren winzige Akrobaten, Trapezkünstler, Basketball-Spieler, Priester, Jongleure, Turner, aber sie alle waren von Kopf bis Fuß, bis in den kleinen Finger Skelette, und alle waren klein genug, um sie in einer Hand zu halten.

Und dort drüben im Fenster stand eine MiniaturJazzkapelle mit einem Skelett als Schlagzeuger und einem Skelett als Trompeter und einem Skelett mit einer Tuba, die nicht größer war als ein Suppenlöffel, und einem Skelett als Dirigent, der eine bunte Mütze trug und einen Taktstock in der Hand hielt. Aus den winzigen Blasinstrumenten kam leise Musik.

Noch nie hatten die Jungen so viele Knochen gesehen.
»Knochen!« lachten alle. »Herrliche Knochen!«
Das Lied verklang:

Nehmt den dunklen Tag mit euch und seid heiter, Beißt ab und schluckt und lebt fröhlich weiter! El Dia de Muerte bleibt zurück in der Zeit – Seid froh, so froh, daß am Leben ihr seid! Calavera … Calavera …

Die schwarz umrandeten Zeitungen wurden in weißen Beerdigungszügen vom Wind davongetragen.

Die mexikanischen Jungen rannten den Hügel hinauf zu ihren Familien.
»Wie seltsam, wie komisch seltsam«, flüsterte Tom. »Was?« sagte Ralph neben ihm.
»Oben in Illinois haben wir vergessen, um was es bei Halloween geht. Ich meine, in unserer Stadt sind die Toten heute nacht einfach vergessen. Keiner erinnert sich an sie. Keiner kümmert sich um sie. Keiner geht auf den Friedhof und redet mit ihnen. Sie sind ganz schön einsam. Das ist wirklich traurig. Aber hier – Mann, hier ist alles anders. Hier ist es fröhlich und traurig zugleich. Auf der Plaza gibt es ein Feuerwerk und all die Spielzeugskelette, und oben auf dem Friedhof kriegen jetzt alle toten Mexikaner Besuch von ihren Familien, mit Blumen und Kerzen und Liedern und Zuckerzeug. Das ist doch fast wie an Weihnachten, oder? Alle setzen sich zum Festessen, auch wenn die Hälfte der Gäste gar nichts essen kann, denn das macht nichts – Hauptsache, sie sind da. Als ob man bei einer spiritistischen Sitzung ist und sich mit Freunden an den Händen faßt, nur daß manche Freunde nicht da sind. Irre.«
»Ja«, sagte Ralph und nickte. »Irre.«
»Hey, seht mal, seht mal da drüben«, sagte J. J.
Die Jungen drehten sich um.
Auf einem Haufen weißer Totenköpfe aus Zucker lag einer, auf dem PIPKIN stand.
Das war Pipkins zuckersüßer Schädel, doch in all dem Durcheinander aus Explosionen und tanzenden Knochen und umherfliegenden Schädeln war kein Stäubchen, kein Ton, kein Schatten von Pipkin zu sehen oder zu hören.
Sie hatten sich so daran gewöhnt, daß Pip unvermittelt in phantastischen, überraschenden Situationen hervorgesprungen kam – aus der Fassade von NôtreDame oder aus schweren goldenen Sarkophagen –, daß sie erwartet hatten, er würde wie ein Schachtelteufelchen aus einem Haufen Zuckerschädel zum Vorschein kommen, ihnen Leichenhemden um die Ohren schlagen und traurige Lieder singen.
Aber nichts. Plötzlich gab es keinen Pip mehr. Gar keinen Pip mehr.
Vielleicht nie mehr.
Die Jungen erschauerten. Ein kalter Wind wehte Nebel über den See.

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